In den vorherigen Artikeln konnten wir uns einen Überblick über Kant und seine Moralvorstellung machen. Außerdem hatten wir Einblick in bestimmte Problematiken, die mit Kants Ausdrucksweise einhergeht.
Gerade bei Kant werden aber auch die Kritiken und (ich nenne es mal) Schattenseiten weniger beleuchtet. Deswegen sollte man sich diese bei 300 Jahre Kant genauer anschauen.
Denn allzu schnell fallen solche Punkte hinten über und es entsteht eine Art romantisches Bild, was aber überhaupt nicht der Realität entspricht.
Falls du dich erst über Kant informieren möchtest, kannst du das hier tun.
Schauen wir doch zuerst einmal, wer Elizabeth Anscombe war.
Elizabeth Anscombe – das Leben einer Philosophin
Philosophinnen kommen in der Philosophie weit weniger in den Fokus als ihre männlichen Kollegen, was mitunter lange Zeit an der Struktur der Gesellschaft lag.
Eine dieser Philosophinnen ist Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe. Als eine der einflussreichsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts hinterließ sie ein bleibendes Erbe, das heute noch relevant ist. Doch wer war diese bemerkenswerte Denkerin und was macht ihre Arbeit so bedeutsam?
Elizabeth Anscombe wurde 1919 in Limerick, Irland, geboren und wuchs in einer Familie auf, die großen Wert auf Bildung legte. Ihre akademische Reise begann an der Sydenham High School und führte sie schließlich an das prestigeträchtige St. Hugh’s College in Oxford. Hier studierte sie Philosophie, Griechisch und Latein, was den Grundstein für ihren späteren Werdegang legte.
Während ihrer Zeit in Oxford kreuzten sich ihre Wege mit einigen der größten Geister der Zeit, darunter auch Ludwig Wittgenstein, dessen Arbeiten und Ideen einen tiefen Einfluss auf sie hatten. Nach ihrem Studium zog es Anscombe nach Cambridge, wo sie unter Wittgensteins Anleitung promovierte und später selbst eine angesehene akademische Position erlangte.
Philosophischer Einfluss Anscombes
Anscombe war bekannt für ihre scharfsinnige Kritik an der modernen Moralphilosophie. In ihrem einflussreichen Essay „Modern Moral Philosophy“ forderte sie eine Abkehr von den vorherrschenden ethischen Systemen ihrer Zeit, insbesondere der deontologischen Ethik (von griechisch „deon“ das Gesollte oder das Erforderliche oder auch Pflicht (daher auch Pflichtethik)) Immanuel Kants.
Sie argumentierte, dass diese Ansätze zu sehr auf universellen Regeln und Gesetzen basierten und dabei die Wichtigkeit von Tugenden und moralischem Charakter vernachlässigten.
Ihre Befürwortung der aristotelischen Tugendethik war bahnbrechend. Anscombe plädierte dafür, dass ethische Überlegungen auf den Charakter und die Integrität des Einzelnen fokussieren sollten, anstatt auf die starre Befolgung von Regeln. Diese Perspektive bot eine frische und tiefgreifende Art und Weise, über Moral und Ethik nachzudenken, die bis heute nachwirkt.
Elizabeth Anscombes Arbeiten haben nicht nur die philosophische Landschaft ihrer Zeit geprägt, sondern auch Generationen von Denkern nach ihr beeinflusst. Ihre Ideen zur Tugendethik und ihre Kritiken an der modernen Moralphilosophie sind in heutigen Diskussionen über Ethik immer noch präsent und relevant.
Gleichwohl ist sie als Philosophin weniger bekannt als ihre männlichen Kollegen.
Elizabeth Anscombe war eine Pionierin, deren philosophische Arbeiten die Art und Weise, wie wir über Moral, Ethik und die Rolle des Individuums in der Gesellschaft denken, nachhaltig verändert haben.
Ihre Forderung nach einer Rückkehr zu den Wurzeln der ethischen Überlegungen in der Antike bietet auch heute noch wertvolle Einsichten für die Bewältigung moderner ethischer Herausforderungen.
Für alle, die tiefer in das Leben und Werk von Elizabeth Anscombe eintauchen möchten, empfiehlt sich die Lektüre ihres Werkes „Intention“ oder eine vertiefende Beschäftigung mit ihren zahlreichen philosophischen Essays und Studien.
Ihre Gedanken und Überlegungen sind ein unverzichtbarer Teil des philosophischen Diskurses und bieten auch heute noch wichtige Impulse für ethische Überlegungen in einer komplexen Welt.
Anscombes Kritik an Kant
Wie oben erwähnt, hat sich Anscombe in ihrem Essay „Modern Moral Philosophy“ kritisch mit der Ethik Kants auseinandergesetzt.
Ihre Kritik bietet eine faszinierende Perspektive auf die Grenzen von Kants Ansatz und schlägt eine alternative Sichtweise vor, die auf der aristotelischen Tugendethik basiert.
Um Anscombes Kritik vollständig zu verstehen, ist es hilfreich, die Grundzüge von Kants Ethik zu betrachten. Kant betonte die Wichtigkeit von universellen moralischen Gesetzen und Prinzipien, die durch reine Vernunft bestimmt werden können.
Sein berühmter kategorischer Imperativ fordert, dass man nur nach derjenigen Maxime handeln soll, die man zugleich als allgemeines Gesetz wollen kann. Dieser Ansatz zielt darauf ab, eine objektive, rationale Grundlage für die Moral zu schaffen.
Legalismus und Universalität
Anscombe kritisiert, dass Kants Ethik zu einem „Legalismus“ neigt, also einer übermäßigen Abhängigkeit von festen Regeln, die in ihrer Sicht die moralische Wirklichkeit nicht angemessen erfassen können. Mit heutigen Worten könnte man auch sagen, dass sie seine Ethik als weltfremd ansah.
Sie argumentiert, dass moralische Entscheidungen komplex sind und nicht immer effektiv durch starre, universelle Gesetze geregelt werden können.
Diese Kritik unterstreicht ihren Wunsch, eine flexiblere, auf Tugenden basierende Ethik zu fördern, die besser auf die Besonderheiten individueller Situationen eingeht.
Vernachlässigung des moralischen Akteurs
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt Anscombes betrifft Kants Vernachlässigung des moralischen Akteurs selbst – seiner Tugenden und Charaktereigenschaften.
Kant konzentriert sich auf die Handlungen und ihre Übereinstimmung mit universellen Regeln, ohne dabei die moralische Integrität oder die Entwicklung des Charakters der handelnden Person zu berücksichtigen.
Anscombe hingegen sieht in der Tugendethik einen Weg, die moralische Qualität des Individuums in den Mittelpunkt zu stellen.
Das Problem des moralischen Sollens
Anscombe hinterfragt auch Kants Konzept des „moralischen Sollens“.
Sie hält es für problematisch, moralische Verpflichtungen als Gesetze zu formulieren, die unabhängig von einer göttlichen Autorität bestehen.
In ihren Augen fehlt eine solide metaphysische Basis für Kants Ansatz.
Dies führte sie dazu, eine Rückkehr zu einer Form von Ethik zu fordern, die ihre Wurzeln in einem umfassenderen philosophischen und theologischen Rahmen hat.
Der letzte Punkt lässt mich jedoch auch Anscombe kritisieren, denn sie hatte einen stark religiös geprägten Hintergrund und war überzeugte Katholikin. Ihre Religion beeinflusste tiefgehend ihre Ansichten zur Moral und Ethik, insbesondere ihre Auseinandersetzung mit Themen wie der Bedeutung des Lebens, der Moralität von Handlungen und der Rolle des Gewissens.
Anscombe verteidigte auch die katholische Kirchenlehre in verschiedenen ethischen Fragen, darunter Abtreibung und Empfängnisverhütung, und ihre Arbeiten spiegeln oft eine Suche nach einer Integration von Glauben und Vernunft wider, die typisch für viele katholische Denker ist.
Ihre religiösen Überzeugungen waren also nicht nur ein persönlicher Glaube, sondern auch ein integraler Bestandteil ihrer philosophischen und ethischen Überlegungen.
Heutige ethische Debatten
Die philosophische Auseinandersetzung zwischen Elizabeth Anscombe und Immanuel Kant ist mehr als nur ein historischer Disput; sie bietet wertvolle Einsichten für einige der drängendsten ethischen Fragen unserer Zeit.
Indem sie die Grenzen und Möglichkeiten verschiedener ethischer Systeme aufzeigt, hilft uns diese Diskussion, besser zu verstehen, wie wir persönliche und gesellschaftliche Entscheidungen treffen können.
Anscombes Kritik an Kants Pflicht-Ethik und ihre Befürwortung einer auf Tugenden basierenden Ethik sind besonders relevant in einer Welt, die zunehmend von komplexen moralischen Herausforderungen geprägt ist.
In einer globalisierten Gesellschaft, in der kulturelle und individuelle Unterschiede aufeinandertreffen, können starre, universelle Regeln oft zu kurz greifen. Anscombes Betonung der Tugenden und des Charakters bietet einen flexibleren Ansatz, der es Individuen ermöglicht, nuancierte und kontextbezogene ethische Entscheidungen zu treffen.
Anscombes und Kants ethische Theorien können auf moderne Probleme wie Umweltethik, die ethischen Herausforderungen der Technologie (wie Künstliche Intelligenz und Datensicherheit) und globale Gerechtigkeitsfragen angewendet werden.
Ihre Ideen helfen uns, die Rolle der individuellen Verantwortung und die Bedeutung ethischer Überlegungen in technologischen und umweltpolitischen Entscheidungen zu überdenken.
Beispielsweise fordert die Umweltethik uns auf, unsere Verantwortung gegenüber anderen Lebewesen und zukünftigen Generationen zu bedenken, ein Bereich, in dem tugendethische Überlegungen besonders fruchtbar sein können.
Die Diskussion zwischen Anscombe und Kant zeigt auch die Bedeutung der ethischen Bildung auf. Indem sie komplexe ethische Theorien verständlich und relevant für heutige Probleme macht, trägt sie dazu bei, dass Bildungseinrichtungen ihre Lehrpläne anpassen, um kritisches Denken und moralische Reflexion zu fördern.
Diese Art von Bildung ist entscheidend, um verantwortungsbewusste Bürger zu formen, die fähig sind, ethische Herausforderungen in einer immer komplexeren Welt zu bewältigen.
Flexiblere Ethik
Aber warum lässt sich Anscombes Ethikvorstellung besser auf die modernen Probleme anwenden als Kants Ideenwelt?
Dies liegt hauptsächlich an ihrer Betonung von Charakter, praktischer Weisheit und situativem Urteilsvermögen, was in einer zunehmend komplexen und pluralistischen Welt von großer Relevanz ist.
Ihre Tugendethik betont die Bedeutung von Charaktereigenschaften und Tugenden, die es dem Einzelnen ermöglichen, in unterschiedlichen Situationen angemessen zu handeln. Dieser Ansatz erkennt an, dass moralische Entscheidungen oft von den spezifischen Umständen abhängen, in denen sie getroffen werden.
Ganz anders bei Kant, der der Ansicht ist, dass es (im übertragenen Sinne) nur „eine Regel“ gibt, diese jedoch unabhängig von der Situation für alle gilt.
Anscombes Philosophie legt großen Wert auf die Entwicklung moralischer Tugenden, die nicht nur das Verhalten in spezifischen Situationen, sondern die gesamte Person betreffen. Dies fördert ein umfassendes ethisches Wachstum, das über die bloße Regelbefolgung hinausgeht.
Durch die Betonung des Charakters und der Tugenden wird ein tieferes Verständnis für die Gründe und Motivationen moralischen Handelns geschaffen, was in der modernen ethischen Bildung und Praxis als essenziell betrachtet wird.
Kants Ethik fokussiert sich auf die Einhaltung von Pflichten unabhängig von persönlichen Neigungen oder Situationen. Dies kann die Entwicklung einer persönlichen moralischen Einsicht und flexibler moralischer Reaktionsfähigkeit untergraben, da es primär um die Befolgung von Regeln geht.
Und noch ein weiterer, wichtiger Punkt ist hier zu nennen: der kulturelle Unterschied und interkulturelle Kontext.
Die Tugendethik Anscombes berücksichtigt kulturelle und individuelle Unterschiede in der Beurteilung dessen, was als tugendhaft gilt. Dies ist besonders wichtig in einer globalisierten Welt, in der Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Wertvorstellungen interagieren.
Der universelle Anspruch des kategorischen Imperativs kann in interkulturellen Kontexten problematisch sein, da nicht alle Kulturen dieselben Prinzipien oder Werte teilen.
Dies kann zu Konflikten führen, wenn universelle Regeln auf Situationen angewandt werden, die spezifische kulturelle Kontexte erfordern.
Abschließende Gedanken
Man kann also sehen, dass Anscombes Kritik an Kant berechtigt ist und ihr Weg, weitaus flexibler gestaltet werden kann, weil hierbei die Person und deren Charakter betrachtet wird und es nicht darum geht eine universelle Regel zu befolgen.
Gerade in einer Welt, die immer schneller im Wandel ist und viele kulturelle Aspekte mit sich bringt, ist eine Ethik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, weitaus vernünftiger, als zu versuchen eine absolute Regel über alle Menschen, deren kulturellen Hintergrund oder deren charakterliche Entwicklung zu stülpen.
Es lohnt sich also, wenn man sich Fragen zur Ethik stellt und diese dann einfach mal aus den Blickwinkeln Kants und Anscombes betrachtet.
Habt ihr euch schon mit Anscombe oder der aristotelischen Tugendethik beschäftigt?
Seht ihr auch diese Probleme bei Kant oder habt ihr andere Ansichten dazu?
Schreibt mir in die Kommentare.