Durch einen Beitrag auf Instagram von Dr. Cornelia Mooslechner-Brüll, der Betreiberin des Philoskops, ist mir ein Beitrag eingefallen, den ich früher mal geschrieben, aber noch nicht veröffentlicht hatte. Gleichwohl denke ich, dass dieses Thema unsere Gesellschaft auch heute noch stark umtreibt, außerdem denke ich, dass man ihn als Ergänzung zu meinem Artikel über unsere derzeitige Diskussionskultur sehen sollte, sozusagen als Beiwerk.
Vor Kurzem (das war 2014) bin ich auf diesen Satz gestoßen, der mich wieder einmal anfangen lies zu grübeln.
Hört sich komisch an, wenn man so etwas liest, nicht wahr?
Unbekannt
„Gender mich nicht voll…“
Ein Gemisch aus englischen und deutschen Wörtern zu einem Satz zusammengefasst, bei dem man sich erst mal überlegen muss, was er eigentlich im eigentlichen Sinn bedeutet.
Umgeformt könnte man sagen „Nerv mich nicht, mit deiner Geschlechtsdefinition“ oder „Störe mich nicht mit deiner Sonderheit“.
Gut, das könnte man jetzt so stehen lassen, wenn da nicht gleich die nächste Frage auftauchen würde: „Wer oder was nervt einen mit seiner Definition und warum?“
Aber fangen wir doch erst mal mit dem „Wo?“ an. Gestoßen bin ich auf den Satz bei Facebook. Dort tummeln sich viele Menschen und diese schließen sich dann gerne in Gruppen zusammen. Vielleicht weil man das gleiche Hobby hat oder eine ähnliche Gesinnung oder sich einfach mit Unbekannten austauschen möchte, die dann irgendwann zu Bekannten und Freunden werden.
So weit, so gut – und verständlich.
Inhalt
- Tradition als Basis
- Einfache Rollenverteilung?
- „Gender mich nicht voll“ als Ausdruck der Angst vor Veränderung
Tradition als Basis
Bei diesen Gruppen gibt es dann die eine oder andere, die z.B. auf Traditionen pocht. Auch das ist nachvollziehbar, da es sich um „Kulturgüter“ handeln kann, wie bestimmte Festivitäten, Zusammenkünfte, Musik, Sprache oder andere Dinge, die eine Kultur ausmacht.
Dagegen ist eigentlich nichts zu sagen, denn unterschiedliche Kulturen und Völker haben verschiedene Phasen der Zeit durchlaufen und somit Veränderungen erlebt, so dass die jeweilige Kultur zu der geworden ist, wie sie heute ist.
Doch scheint es den einen oder anderen zu geben, der sich durch heutige Veränderungen in seiner Tradition bedroht sieht. Ein beliebter Satz, den der eine oder andere schon mal auf Arbeit gehört haben wird, ist: „Das haben wir schon immer so gemacht.“
Vom Prinzip her ist das ja auch verständlich: Man hat etwas ausprobiert, gemerkt, dass es funktioniert oder eben nicht und es dann entweder beibehalten oder verworfen. Das geschieht oft in unserem Leben und in unseren Tagesabläufen, damit wir einfach und schnell zu dem Ergebnis kommen, das wir uns wünschen.
Wenn dann jemand neues z.B. ins Büro kommt, bestimmte Abläufe als kompliziert und veraltet erachtet und es besser machen möchte, damit es einfacher wird, stoppt man diesen in der Regel sehr schnell mit besagtem Satz. Die Kreativität wird gehemmt und potentiell werden neue Ideen gar nicht erst ausgearbeitet. Somit kann es sein, dass wiederum andere Ideen gar nicht erst erdacht werden. Die Weiterentwicklung wird damit zwar nicht aufgehalten, jedoch für einige Zeit ein Riegel vorgeschoben.
Dabei geht es aber nur um kleine „Bürotraditionen“.
Andere Gruppierungen beziehen sich da nicht nur auf das Büro und die dortigen Abläufe, sondern gehen viel weiter.
Um nochmal auf Facebook zurück zu kommen: Seit dem Jahr 2014 kann man sein Geschlecht bzw. seine Sexualität dort viel genauer bestimmen. Zuvor gab es nur männlich oder weiblich. Jetzt gibt es 56 oder 60 (die Medien waren sich damals nicht ganz einig) neue Geschlechter und sexuelle Ausrichtungen.
Das ist für viele Menschen, die sich als Person genauer definieren und darstellen möchten wichtig. Zumal Facebook diese Möglichkeit gar nicht zugelassen hätte, wenn die Nachfrage nicht so groß gewesen wäre.
Es gibt also einen Bedarf danach, dass Menschen sich definieren oder nach Sartre „sich selber schaffen“.
Einfache Rollenverteilung?
Gleichzeitig gibt es aber Personen, die der Meinung sind, dass andere Menschen, außer einer gegebenen Mann-Frau-Verteilung nicht weiter zu wählen haben, da es sich dabei nun ja mal um die traditionelle Geschlechter-(Rollen-)Verteilung handelt.
Mit dieser traditionellen Verteilung (und Verteidigung) tue ich mich ehrlich gesagt etwas schwer. Das hat verschiedene Gründe:
Zum einen gab es, sei es im alten Ägypten, in der Antike, im Mittelalter oder in der Zeit der Aufklärung immer wieder Menschen, die sich als anders empfanden als die Menschen um sie herum oder fanden vielleicht sogar in ihrem Umfeld Menschen die sich ähnlich verhielten und fühlten. Doch in bestimmten Zeitabständen wurde immer wieder nach Sündenböcken gesucht oder es wurde eine Tradition als die allerwichtigste gehalten und demnach auch ihre Regeln als höchste angesehen.
In diesen Traditionen war oftmals kein Platz für „Andersartigkeit“; wer anders war, der war keiner von den Menschen der Gesellschaft – um es mal drastisch auszudrücken.
Daher wurde dies oftmals verheimlicht und gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Für die Öffentlichkeit wurde dann eben eine Rolle angenommen, die nur im Verborgenen zum Vorschein kam. Das heißt, dass diese Menschen nicht sie selbst sein konnten, aus Angst vor Repressalien oder sogar dem Tod; und das nur, weil sie nicht in das vorgegebene Weltbild der Gesellschaft passten.
Zum anderen leben wir heute in einer (eigentlich) aufgeklärten Gesellschaft, was bedeutet, dass wir das Fremde, uns unbekannte, nicht sofort zurückweisen, sondern versuchen ein Verständnis zu entwickeln worum es sich handelt. So können wir die Welt ein Stück mehr erfassen und verstehen.
Gleichzeitig leben wir in einer sehr schnelllebigen Zeit und es wird immer schwieriger alle Informationen zu erfassen und zu verarbeiten. Das Neue wird dabei vielleicht sogar als zu schnell wahrgenommen und nicht nur das, es wird, weil es in seiner Fülle nicht gänzlich erfasst werden kann, als bedrohlich angesehen; wie ein riesiger Berg der sich vor einem auftürmt und unbezwingbar erscheint.
„Gender mich nicht voll“ ist daher Ausdruck dieser Angst und des Unvermögens dieses Neue zuzulassen. Aus Angst muss derjenige sich an etwas festhalten und da liegt es nahe, sich an etwas zu halten „was schon immer funktioniert hat“ (das machen wir schon immer so) – Traditionen.
Durch das ausleben und pochen auf bestimmte Lebenstraditionen wird damit die Angst und die Unfähigkeit ausgedrückt sich auf das Neue einzulassen. Dabei ist die Tradition als solche nur ein Hilfsmittel, es geht eigentlich gar nicht um sie selbst, sondern ist wie ein Ruhepol, ein Schutzschild oder der Punkt Null von dem alles ausgeht – man könnte auch sagen es ist das Nonplusultra aller Lebensweisen. Zumindest für den, der sich an diese Tradition klammert.
Es geht an sich ja erst mal keine wirkliche Gefahr davon aus, wenn man sein Geschlecht, seine Sexualität oder sich selbst definieren möchte. Man greift ja nicht einmal in das Privatleben anderer dabei ein, sondern versucht ganz man selbst zu sein. So, wie es einem immer wieder gesagt wird „Sei du selbst“.
Dennoch muss derjenige, der sich bedroht fühlt und Angst hat, diese begründen – dabei geht es aber nicht um das öffentliche Eingestehen dieser Furcht, sondern geschieht in diesem Falle z.B. durch die Verteidigung des traditionellen Rollenbildes von Mann und Frau. Aber auch durch verschwörungstheoretische Ideen wie bspw. dass eine Weltregierung versucht das traditionelle Rollenbild verschwinden zu lassen, damit man den Menschen als solchen besser kontrollieren kann.
„Gender mich nicht voll“ als Ausdruck der Angst vor Veränderung
Am Ende sind solche Ideen zwar ein nettes Gedankenspiel, jedoch ist die Angst und das Unvermögen klar erkennbar. Die schnelllebige Zeit und Veränderung verschreckt einige Menschen. Es ist zu viel Neues auf einmal.
„Gender mich nicht voll“ ist der absolute Ausdruck dieser Furcht und engt damit schnell den Horizont ein. Wenn wir Furcht vor etwas haben, dann rennen wir weg oder versuchen uns klein zu machen oder wir versuchen es zu bekämpfen. Wenn man sich die Punkte mal einzeln anschaut, dann wird die dahintersteckende Symbolik ziemlich interessant:
Wegrennen – das Objekt der Furcht wird kleiner und gerät dadurch in die Ferne, also in einen sicheren Abstand.
Sich klein machen – es wird versucht so wenig Angriffsfläche wie möglich zu haben, damit das was uns angreift oder bedroht nicht so leicht treffen kann.
Bekämpfen – das was uns Furcht bereitet oder was uns unverständlich ist, wird bekämpft, damit es dem Menschen keinen Schaden zufügt.
Einen wichtigen Punkt habe ich noch vergessen: Wenn der Mensch Angst hat, dann bleibt er auch gerne wie angewurzelt stehen.
Das Stehenbleiben – da kommen wir wieder in den Bereich des Festhaltens an etwas. In diesem Falle an Traditionen, Rollenbildern und Werten.
Wenn wir Werte nutzen, dann ist das notwendig, denn so haben wir es geschafft als Gesellschaft zusammenzuleben und uns zu entwickeln, dennoch sollten wir nicht vergessen, dass es hilfreich sein kann unsere Werte, Traditionen und Bilder zu überdenken, um uns weiterzuentwickeln.
„Gender mich nicht voll“ ist somit ein vielfältiger Ausdruck der Angst vor Neuem und der schnelllebigen Zeit an sich; gleichzeitig ist die Tradition eine Begründung und Schutzschild für den Menschen, der sich versucht auf diese Weise zu verbalisieren.
Darüber nachzudenken – und ob es vielleicht ähnliche Fälle gibt, in denen wir uns selbst möglicherweise nicht auszudrücken wissen und somit versuchen einen Grund zu nutzen, der uns dabei hilft oder doch eher hindert das eigentliche Problem zu erfassen – das ist eine unserer Aufgaben als Mensch.
Wie würdet ihr den Ausdruck verstehen? Seht ihr das völlig anders oder habt ihr dazu noch weitere Ideen, die man verfolgen könnte?
Schreibt mir in die Kommentare!
Veröffentlicht November 2014, aktualisiert
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