Wer über die Jahre meinen Blog verfolgt, weiß, dass ich den sozialen Medien immer wieder kritisch gegenüberstehe. Nicht nur, weil es sich dabei oftmals um undurchsichtige Algorithmen handelt, sondern auch wie deren Erbauer und Verwalter mit diesen umgehen.
Aber ich erwähne auch, dass nicht immer alles schlecht ist, was die sozialen Medien angeht, denn der eigentliche Gedanke des Netzwerkens mit anderen und daraus etwas positives zu kreieren ist als solches ja noch immer vorhanden, wenn oft auch nicht vordergründig.
Für das Aufbauen solcher Verbindungen sind die sozialen Medien also wiederum gut geeignet. In diesem Falle hatten Dirk Boucsein (philosophies) und ich zueinandergefunden (wobei durch ihn der Stein ins Rollen kam) und uns ausgetauscht.
Philosophies ist ein Philosophieblog & Wissenschaftsblog, schaut jedoch auch über den Tellerrand hinaus.
Bei unserem Austausch wurde uns nicht nur klar, dass wir beide einen philosophischen Blog führen, sondern auch eine gewisse Schnittmenge in einigen Themen haben, was das ganze umso interessanter macht.
Das hat uns dazu veranlasst über einige mediale Themen gemeinsam nachzudenken und uns weiter auszutauschen. Denn gerade in Deutschland, einem Land, welches über viele Jahrhunderte die Philosophie kultiviert hat, ist genau diese ins Hintertreffen geraten. Nicht nur, dass sie sich so stark verkopft hat, dass sie außerhalb der Universitäten selten anzutreffen ist, sondern in Schulen wird sie auch nur gelehrt, wenn man Glück hat.
In diesem Zusammenspiel wollen wir schauen, ob wir die Philosophie wieder einen Schritt in die Moderne holen können, wo sie eigentlich alltäglich zu finden sein sollte. Hierbei werden wir möglicherweise auch ein wenig experimentieren, wer weiß das schon genau, aber interessant wird es sicher allemal.
Um euch einen Vorgeschmack zum Thema der neuen Medien und der Informationsflut zu geben, hat heute Dirk Boucsein nun selbst die Möglichkeit etwas zum Thema zu sagen und vielleicht findet der eine oder andere ja sogar einige Schnittmengen unserer Blogs.
Die Informationsgesellschaft 2.0 – Wir informieren uns zu Tode
Table of Contents
- „Sachen in deinem Zimmer verstecken…
- „Die Informationsgesellschaft 2.0 – wir informieren uns zu Tode“
- Abstract
- Diagnose
- Pathogenese
- Behandlungsplan
„Sachen in deinem Zimmer verstecken…
Wenn du einen Liebesbrief, ein Tagebuch oder einen anderen persönlichen Gegenstand vor allzu neugierigen Eltern, Geschwistern oder Mitbewohnern verstecken willst, musst du ganz schön kreativ werden. Vergiss die offensichtlichen Verstecke unter der Matratze oder in der Unterwäscheschublade, gerade Eltern kennen sie alle. Ganz gewöhnliche Gegenstände wie Bilderrahmen, leere Cremedosen oder sogar alte Spielzeuge sind manchmal die besten Verstecke. Pass nur auf, dass du dich selbst noch daran erinnerst, wo du was versteckst hast!„
(https://de.wikihow.com/Sachen-in-deinem-Zimmer-verstecken)
Die besten Verstecke für Dinge, die nicht gefunden werden sollen, sind also die offensichtlichen Verstecke. Wo versteckt man also einen wertvollen Geldschein? Natürlich eingerahmt als Bild an der Wand. Wo versteckt man also kostbare Diamanten? Selbstverständlich eingelassen in das Mosaik des Fußbodens. Und nun die Preisfrage: Wo versteckt man wichtige, brisante Informationen? Na, na? Sie kommen drauf. Selbstredend, als offensichtliche Nachricht im Internet. Kein Mensch kann sie mehr finden, da dies der berüchtigten „Stecknadel im Heuhaufen“ gleichkommt. Auch ich kann täglich meine „Flaschenpost“ ins „Meer der Informationen“ werfen und hoffen, dass einer sie im „World Wide Web“ herausfischt. Na, diesmal scheint es ja geklappt zu haben ;-).
„Die Informationsgesellschaft 2.0 – wir informieren uns zu Tode“
Aber damit bin ich auch schon „mitten drin“ in meinem kleinen Essay über die „Informationsgesellschaft 2.0 – wir informieren uns zu Tode„. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, die mir in meinem vorherigen Essay zur „Dialektik der Aufklärungen – es werde endlich Licht!“ im Schein des Kerzenlichtes aufleuchtete: Wie ist es eigentlich möglich, dass wir in dem „aufgeklärtesten Zeitalter“ der Menschheitsgeschichte mit der immensen, unerschöpflichen Vielzahl an informationellen, technologischen Möglichkeiten und den damit verbundenen Zugang zu unbegrenzter Wissensmenge leben, aber nicht mehr in der Lage sind, „wahr von falsch„, „Fakten von Fake News“ oder „Erkenntnisse von Narrativen“ zu unterscheiden?
Was ist da passiert, seit dem großen Projekt der Aufklärung im 18.Jahrhundert? Aus welchem Grunde müssen Informationen kurz und knapp, am besten nur noch als „Meme„ („Image Macro“ = Bild mit Botschaft) als kontext- und damit sinnleeres „fast read“ zum Konsum angeboten werden? Falls man doch den Fehler, wie in diesem Essay begeht, einen längeren, zusammenhängenden Text ohne Bilder dem geneigten Leser anzubieten, kassiert man gerne schon einmal ein „tl:dr“ („too long, didn’t read“). Ich hoffe aber, dass Sie noch weiter gelesen haben.
Abstract
Falls ja, hier die beabsichtigten Arbeitsschritte in aller gebotenen Kürze und Knappheit. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, dieses Kulturphänomen einmal mit Hilfe von medientheoretischen Ansätzen zu untersuchen. Ich werde mich bei der Analyse dabei hauptsächlich auf Neil Postmans Werke „Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie“ (1985) und „Das Technopol – Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft“ (1991) beziehen. Die Arbeitshypothese soll hierbei die von Postman diagnostizierte, soziokulturelle Erkrankung das „Anti-Information Deficiency Syndrome“ (dt. „Anti-Information-Defekt-Syndrom„) bilden, welche von Postman in Analogie mit „Kultur-AIDS“ abgekürzt wird.
Ausgehend von dem hierbei ermittelten „großen Blutbild“ zum Zustand des informationellen Immunsystem des gesellschaftlichen „Kulturkörpers„, versuche ich dann weitere pathologische Begleiterscheinungen, wie die Dominanz der Bildsprache über die Wortsprache, das Ende der Informationen in der schönen „Huxley-Welt“ oder die „Entdemokratisierung“ durch eine „kritische Masse“ an „Desinformationen“ auf dem „kulturellen CT-Bild“ darzustellen.
Abschließend soll auch noch über „konservative Therapiemöglichkeiten“ (nicht politisch gemeint) nachgedacht und ein Behandlungsplan aufgestellt werden. Hierzu beziehe ich mich auf einen gleich lautenden Impulsvortrag des österreichischen Kommunikationswissenschaftlers und Journalistikprofessors Rudolf Renger „Werden wir zu Tode informiert? Strategien gegen den Wissenswahn?„, in dem er mögliche Lösungsvorschläge macht, die ich aber noch ergänzen möchte.
Dann hoffen wir mal, dass die Operation gelingt.
Diagnose
Die „Medienrevolutionen“ nach Giesecke als „Anamnese“
Veränderungen haben für die meisten Menschen per se schon immer etwas Bedrohliches, da sie hierdurch gezwungen werden lieb gewonnene Gewohnheiten über Bord zu werfen und sich den neuen Umständen anzupassen. Dies gilt auch im besonderen Maße für die Verwendung von Medien im Sinne von Kulturwerkzeugen zur Speicherung, Verbreitung und Vermehrung von Informationen, die dann im günstigsten Falle vielleicht zu so etwas wie Erkenntnis oder Wissen führen können.
Medien wurden zu diesem Zwecke von der Menschheit schon über einen sehr langen Zeitraum genutzt. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Medien-Paradigmen haben natürlich zu starken kulturhistorischen Umwälzungen geführt, die der deutsche Kommunikations- und Medientheoretiker Michael Giesecke in seinem Buch „Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologie“ (1991) sehr eingehend und ausführlich untersucht und beschrieben hat. Daher gilt dieses Buch selber als eines der wichtigsten deutschsprachigen Publikationen zum Buchdruck mit beweglichen Lettern.
Giesecke bezeichnet die „Einführung des Buchdruck als Katalysator kulturellen Wandels„ und sieht in der kriptographischen und der typographischen Technologie der „Druckerpresse“ einesogenannte „Medienrevolution„, die er sich als systemisches Kommunikations- und Gesellschaftsmodell vorstellt. Ganz im Sinne Marshall McLuhan Theorems „das Medium ist die Botschaft“ interpretiert er medienontologisch „Sozial- und Kommunikationssysteme als technologische Systeme“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Buchdruck_in_der_fr%C3%BChen_Neuzeit)
Die Medienrevolution der elektrischen und elektronischen Medien
Die diagnostizierte Pathogenese ist hier Ausdruck einer aktuelleren „Medienrevolution“ vom „Bücherzeitalter“ (ca. 1450 – 1950) zum „Fernsehzeitalter“ (ca. 1950 – 2000):
„Die vierte Umwälzung der informativen und kommunikativen Strukturen erleben wir – wie Giesecke (1992: 40-41) sagt, seit dem 20. Jahrhundert durch die Entwicklung und den Gebrauch der elektrischen und elektronischen Medien. […] Mehrere künstliche Prozessoren werden ohne Zwischenschaltung von psychischen oder sozialen Systemen miteinander vernetzt und können Informationen untereinander austauschen und entsprechend den ihnen eigenen Programmen und Kodestrukturen interpretieren. Technisch ersetzt werden also nicht nur psychische Leistungen, sondern auch die Leistungen sozialer Systeme bzw. das, was bis dahin als ihre charakteristische Leistung galt. Computer erscheinen aus dieser Sicht als miniaturisierte synthetische Kommunikationssysteme, die die Leistung von Sozialsystemen nachahmen können.“
Elisabeth Burr: „Medienrevolutionen im Überblick“, S. 6, home.uni-leipzig.de/burr/Historisch/images/Medienrevolutionen_Ueberblick.doc
Das „Kultur-AIDS“ nach Postman als „Laborbefund“
Und genau in diese Wunde des geschundenen, medialen „Kulturkörpers“ der Informationsgesellschaft 2.0 legt auch der US-amerikanischer Medienwissenschaftler Neil Postman (* 8. März 1931 in New York; † 5. Oktober 2003 ebenda) seine Finger in seinen beiden Büchern „Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie“ (1985) und „Das Technopol – Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft“ (1991). In „Das Technopol“ entwirft er ein „großes Blutbild“ zur soziokulturellen Lage der USA in den 90er Jahren, wobei er hier dem „Patienten“ ein sogenanntes „Kultur-AIDS“ als „Anti-Information Deficiency Syndrome“ (dt. „Anti-Information-Defekt-Syndrom„) diagnostiziert.
Den Auslöser für diese schwere kulturelle Erkrankung sieht Postman in den pathogenen Veränderungen, die durch das Aufkommen der elektronischen, bildhaften Medien (Fernsehen, Werbespots) und deren zügellosen Konsum entstanden sind. Hierbei behauptet er noch nicht einmal – im Gegensatz zum Beispiel zu McLuhan oder meiner bescheidenen Meinung -, dass diese „Veränderungen in der Struktur des menschlichen Verstandes oder der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit“ (Neil Postman:“Wir amüsieren uns zu Tode“, S. 39) geführt hätten, aber „dass ein wichtiges neuartiges Medium die Diskursstruktur verändert, und zwar indem es bestimmte Anwendungsformen des Intellekts fördert, bestimmte Definitionen von Intelligenz und Weisheit bevorzugt und nach einer bestimmten Art von Inhalten verlangt – kurz, indem es neue Formen von Wahrheit und Wahrheitsäußerung hervorbringt.“ (ebd., S. 39 – 40) Und schwupps, fühlt man sich an die „alternativen Fakten“ eines Donald Trumps erinnert. Doch dazu später mehr. Jetzt erst einmal noch zurück zum Inhalt des „Laborbefundes„:
„Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs die Menge der in Wort und Bild verfügbaren Informationen exponentiell. Vor allem die Telegraphie und die Photographie ebneten den Weg für eine neue Definition der Information. Diese Information leugnete die Notwendigkeit von Zusammenhängen, sie kam ohne Kontext aus, sie propagierte die Unmittelbarkeit, wandte sich gegen historische Kontinuität und versprach Faszination statt Komplexität und Kohärenz. Dann brach in der atemlos gewordenen abendländischen Kultur die vierte Phase der Informationsrevolution an, das Sendezeitalter. Und schließlich die fünfte, das Zeitalter der Computertechnologie. Jede dieser Phasen brachte neue Formen von Information mit sich, immer mehr Information und immer schnellere Information (falls sich die nahezu erreichte Augenblicklichkeit noch weiter steigern läßt).“
„Das Technopol“, S. 41
Die Desinformation als subversive Information
Wie man hier erkennen kann, verwendet Postman ebenfalls die zu anfangs erwähnten „Phasen der Medienrevolutionen„, um das medientheoretische Phänomen der „Desinformation“ zu beschreiben.
Die „Desinformation“ definiert er im Gegensatz zum „Informationsmangel“ als „eine irreführende Information – unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information -, Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt.“ („Wir amüsieren uns zu Tode“, S. 133) Das bedeutet, dass die subversive Kraft einer Vielzahl von angeblichen „News“ und wichtigen „Nachrichten„, die sich den ganzen Tag bis zum Erbrechen wiederholen, letztenendes zum Verstopfen der Informationskanäle des Rezipienten durch ein Übermaß an „informativen Müll“ führen. Zu dem Versagen der „informationellen Filteranlagen“ komme ich später aber noch einmal.
Der Informationsüberschuss als inflationäre Information
Nun sollte aber zunächst einmal das Postulat eines „Informationsüberschuss„, bei der „die Information zu einer Art Abfall geworden“ und „wahllos und beliebig in Erscheinung tritt, nicht an bestimmte Adressaten gerichtet, aber von gigantischem Umfang, in hohem Tempo, aber abgespalten von Theorie und Sinn, von Zweck und Ziel“ („Das Technopol“, S. 41) einer Überprüfung unterzogen werden.
Der britische Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price hatte dieses Phänomen der „inflationären Informationen“ in seinem bereits 1963 veröffentlichten Buch „Little Science, Big Science“ anhand der exponentiellen Zunahme wissenschaftlicher Publikation („Informationsexplosion„), sowie der Verteilung und Halbwertszeit von Zitationen beschrieben. Er gilt daher als Begründer der „Szientometrie„, die sich mit der Messung derlei Daten beschäftigt. 2015 betrug zum Beispiel die gesamte Buchtitelproduktion in Deutschland 89.506 Neuerscheinungen, wovon 76.547 als Erstauflage heraus kamen (https://zahlenbilder.de/deutschland/kultur/massenmedien-literatur-und-kunst/1065/buchproduktion-in-deutschland). Wer soll das alles noch bei Lebzeiten lesen?
Der österreichische Kommunikationswissenschaftler Rudi Renger weist ebenso in seinem Impulsvortrag daraufhin, dass: „Bereits jede bzw. jeder dritte Deutsche fühlt sich von Informationen förmlich überflutet, verantwortlich für diesen Befund sind v.a. Fernsehen und Internet. Neun Stunden konsumieren unsere deutschen Nachbarn täglich TV und 100 Minuten, also fast zwei Stunden wird pro Tag aktiv im Internet gearbeitet und gesurft.“ Zu dem käme noch die „elektronische Flut“ der Email-Kommunikation: „2007 hinterließ so jeder bzw. jede ErdenbewohnerIn einen „digitalen Fußabdruck“ mit einer Kapazität von 45 Gigabyte im Informationsuniversum.“ (Rudi Renger: „Werden wir zu Tode informiert? Strategien gegen den Wissenswahn?“, 2013, S. 1 – 2 http://www.komunariko.at/wp-content/uploads/Dialog_Info-zu-Tode_2013-04-11.pdf)
„Coleridges berühmter Vers «Wasser, Wasser überall, aber kein Tropfen zu trinken» liefert so etwas wie ein Motto für eine dekontextualisierte Informationsumwelt: eine Flut von Informationen, aber nur sehr wenig davon war brauchbar.“
Neil Postman: „Wir amüsieren uns zu Tode“, S. 87
Pathogenese
Die Informationsgesellschaft 2.0
Dieses Übermaß an Informationen, die „Informationsflut/-schwemme“ durch die vermeintlichen Nachrichten- oder besser gesagt Unterhaltungsprogramme hat zu dem Begriff der sogenannten „Informationsgesellschaft“ geführt, der von dem US-amerikanischen Soziologen Daniel Bell in seinem Buch „The Coming of Post-Industrial Society“ (1973) geprägt wurde. Die Konnotation des Begriffes „Informationsgesellschaft“ ist hierbei aber keinesfalls positiv gemeint, im Sinne einer Weiterentwicklung des großen Projektes der Aufklärung. Nein, im Gegenteil, wie ich dies schon in meinen vorhergehenden Essay „Die Dialektik der Aufklärungen – es werde endlich Licht!“ beschrieben habe, findet hier wieder ehe die dialektische Negation des Postulates „Vermehrung von Wissen durch Zuwachs an Information“ statt.
Willkommen in der „Guckguck-Welt“
Der an Informationen saturierte Mensch der pseudo-aufgeklärten Informationsgesellschaft flüchtet sich in die „Stupidedia“ der belanglosen, seichten Unterhaltungswelt, in die „Schöne neue Welt“ (1932) eines Aldous Huxley, wo die Informationen nur noch als Hintergrundrauschen eines Fernsehers wirken, der nie abgeschaltet wird, aber auch keiner mehr wirklich hinsieht, sondern nur glotzt. Herzlich Willkommen in der „Informationsgesellschaft 2.0“ oder auch „Guckguck-Welt„, wie Postman sie vielleicht in einer Anspielung auf die „pädagogisch-wertvolle“ Kindersendung „Teletubbies“ genannt hat.
Wir haben uns immer vor der Dystopie in George Orwells „1984“ (1948) gefürchtet, die „Pseudotopie“ („unechte Utopie“) in Aldous Huxley „Schöne neue Welt“ (1932) ist aber viel furchtbarer und realer geworden. Die Orwellsche Kontrolle durch Angst schafft Opposition. Die Huxleysche Selbstentmachtung durch Unterhaltung schafft Opportunismus. Die „Kulturindustrie“ (Adorno/Horkheimer) produziert die Unterhaltung als „das Opium des Volkes„ (Marx). Selbst die Information muss daher einen Unterhaltungswert besitzen.
„Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“
Noch nie war die Informationsmenge und deren Beschaffungsmöglichkeiten so groß wie heute, aber statt hiermit ein „promethisches Feuer“ der Erkenntnis zu entfachen, scheint das Gegenteil eingetreten zu sein. Da sitzen wir (durchaus als selbstkritischer „Pluralis inclusivus“ gemeint) nun im „medialen Dschungelcamp“ und glotzen das „promitechnische Aufflackern“ (das Bonmot sei mir hier verziehen) von „C-Promis“ bis zur finalen Verblödung: „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ Aber selbst die Ausgangstür oder besser gesagt den Ausschalter scheinen wir nicht mehr finden zu können, da an dem anderen „Opium-Tropf“ auf dem anderen „Unterhaltungs-Kanal“ schon längst die „Katzen- und Schminkvideos“ auf unsere Aufmerksamkeit und Konsum warten. Wenn dies nicht so traurig wäre, hätte die absurde Szenerie doch schon wieder etwas Lustiges. Und damit sind wir auch schon beim Thema:
„Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert. Um es anders zu formulieren: Das Entertainment ist die Superideologie des gesamten Fernsehdiskurses.“
Neil Postman:“Wir amüsieren uns zu Tode“, S. 110
Die Politik als „Politainment“
In der Informationsgesellschaft 2.0 muss alles unterhaltsam, leicht konsumierbar sein wie im „Show-Business„, weshalb Postman auch vom „Zeitalter des Show-Business“ oder „Infotainment“ spricht. Vielleicht als Beispiel, selbst das deutsche Wahlkampf-(Duell-/)-Triell 2021, das als Informationsveranstaltung zur demokratischen Meinungsbildung beitragen sollte, also eigentlich eine ernstgemeinte Politik-Sendung, mit ebenso ernstdreinblickenden Moderatoren/-innen und ewig in die Kameras lächelnden Wahllkampfkandidaten/-innen verkommt ruckzuck zum „Politainment“ (A. Dörner: „Politainment – Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft 2001), da sich alle Beteiligten der „Macht der Bilder“ bewusst sind und somit die „mediale Show“ immer vor der Vermittlung von angeblich „trockenen Inhalten“ kommt.
Das Symptom des „Kultur-AIDS“
Postmans Postulat des „Kultur-AIDS“ lässt sich hier als Titer im Blutbild bestimmen. Das „kulturelle Immunsystem“ ist durch die Vielzahl an zu verarbeitenden Informationen, die sich ebenso viral verbreiten, schon derart „weidwund geschossen“ ist, dass die Autonomie der „informationellen Filtersysteme“ zur Selektion von „wichtig vs. unwichtig“ oder „wahr vs. unwahr“ versagen. Die Autonomie „besteht darin, daß das System sich durch eigene Programme in die Lage versetzt, an beiden Zeitgrenzen, sowohl im Hinblick auf die Ursachen als auch in Hinblick auf die Wirkungen seines Handelns, Informationen der Umwelt aufzunehmen, selektiv zu verarbeiten“ (Niklas Luhmann: „Zweckbegriff und Systemrationalität“, 1973, S. 104 f.) Die „relative Autonomie“ (Luhmann) und „informationelle Geschlossenheit“ des Subjekts löst sich auf in der Menge der Daten, wie ich dies in dem vorherigen Essay „Die Dialektik der Aufklärungen“ an dem Slogan „It from Bit“ (Wheeler) nachzuzeichnen versucht habe.
Die „informationellen Filtersysteme“ als „T-Helfer-Zellen“ des „kulturellen Immunsystems“ werden selber zum Angriffsziel und versagen aufgrund der Übermenge an Informtionen. Somit ist der „informationellen Desinformation“ „Tür und Tor geöffnet„. Selbst wichtige, relevante Informationen gehen in dem „Meer des World Wide Web“ unter und können nicht mehr herausgefischt werden. Wir sind auf die künstliche Intelligenz der Algorithmen angewiesen, die uns das Filtern der Informationen abnimmt. Doch damit taucht ein neues Zeitgeist-Phänomen, eine neue Erkrankung die „Filterblase“ auf. Um in dem Bild zu bleiben, könnte man dieses Phänomen auch als eine „Autoimmun-Erkrankung“ bezeichnen , da sich nun das informationelle Immunsystem gegen den Kulturkörper selber richtet und Schäden verursacht. Diese Pathogenese möchte ich aber in einem weiterführenden Essay „Digitaler Tribalismus – willkommen in der Filterblase“ einmal genauer analysieren.
Behandlungsplan
„Klarheit ist Macht“
„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht“ (Yuval N. Harari:„21 Lektionen für das 21. Jahrhundert„, 2018) Aber wie soll nun der Therapieansatz im Behandlungsplan zur Herstellung dieser „Klarheit“ aussehen? Die Menge an Informationen in der Informationsgesellschaft 2.0 wird sich nicht reduzieren lassen. Die konservative Behandlungsmethode über die Algorithmen führt zum einen zur „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) aufgrund der fehlenden, informationellen Autonomie und führt zum anderen zur Abhängigkeit der Entscheidungsprozesse von“großen High-Tech-Unternehmen„. Beides führt aber letztenendes zur „Entdemokratisierung der Gesellschaft“ in Form einer „Digikratur“ („informationelle Diktatur„):
„Im 21. Jahrhundert werden wir wirkmächtigere Fiktionen und totalitärere Religionen als jemals zuvor schaffen. Mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern und durch virtuelle Welten zu erschaffen.“
Yuval N. Harari: „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“
„Maschinenstürmerei“ oder die „Lehre vom Nichtwissen“
Auch eine „Maschinenstürmerei“ im Geiste der „Ludditen„, wie ihn der Devianzforscher und Subkultur-Theoretiker Rolf Schwendter gefordert hat, wird wohl nicht zielführend sein, da sich die „digitale Informationsmaschinerie“ nicht einfach abschalten lässt. Ein mildes Lächeln der Verzweiflung erzeugt ebenso der Vorschlag einer neuen Disziplin der „Agnotologie„, die als „Lehre vom Nichtwissen (quasi als „Schatten der Erkenntnistheorie“)„(Renger), die ganz im Sinne einer „Dialektik der Aufklärung“ den „verbotenen Apfel des Erkenntnisbaumes“ einfach wieder zurück geben möchte. Auf den „Wert vom Nichtwissen und von Geheimnissen“ verweist Rudolf Renger in seinem Impulsvortrag „Werden wir zu Tode informiert? – Strategien gegen der Wissenswahn?“ von 2013.
Die Bildungsreform als Pädagogik für informationelle Filtersysteme
Dies ändert aber nichts an der Pathologie der Filtersysteme. Meines Erachtens erfordert dies ein komplett neues Menschenbild, aber nicht im Sinne eines Hararischen „Homo Deus“. Im Gegenteil diese Dystopie gilt es zu verhindern. Bisher war unser Wissenserwerb enzyklopädisch im Sinne des „Big Data“-Projektes aufgebaut. Die Menge an Informationen sollte zur Erkenntnis führen und somit zu einer Mündigkeit aufgrund von Wissen, im Sinne Bacons Spruch „Denn Wissen selbst ist Macht„. Okay, das wird wohl nicht mehr klappen, da die Menge an Informationen nicht mehr direkt proportional zum Wissen oder geschweige denn zur Macht führen. Im Gegenteil, dies führt nur zu besagtem „Kultur-AIDS„. Also müssen die informationellen Filtersysteme wieder fit gemacht werden.
Aus meiner Sicht kann dies nur in jungen Jahren geschehen, da hier die „Immunantwort auf Desinformation“ noch viel ausgeprägter ist, als in späteren Jahren. Wir bräuchten eine wirkliche Bildungsreform in den Schulen, die auch ihren Namen verdient; also eine echte Überarbeitung der Curricula hinsichtlich der Inhalte. Kein separiertes Lernen von Einzelwissen mehr, sondern ein zusammenhängendes Ganzes als holistisches System, von dem aus man deduktiv einzelne Fakten exemplarisch beleuchten könnte:
„Sie [die moderne Erziehung] verfügt nicht über einen Komplex von Ideen oder Einstellungen, der alle Teile des Curriculums durchdringt. Das Curriculum von heute ist im Grunde genommen überhaupt kein Studien-»Gang«, sondern nur ein sinnloses Durcheinander von Fächern oder Themen. Es entwickelt nicht einmal eine klare Vision davon, was einen gebildeten Menschen ausmacht, oder allenfalls die, es sei dies jemand, der über verschiedene »Fertigkeiten« verfügt. Aber das ist ein Ideal für Technokraten – die Vorstellung von einem Menschen ohne Engagement und ohne Perspektive, allerdings mit einer Menge Fertigkeiten, die sich vermarkten lassen.
Neil Postman:“Das Technopol – Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft„, 1992 Fischer, S. 108
Natürlich dürfen wir die Fähigkeit der Schule, Kohärenz zu vermitteln angesichts einer Kultur, aus der fast alle Kohärenz verschwunden scheint, nicht überschätzen. In unserer technisierten, gegenwartsbezogenen Informationsumwelt ist es nicht leicht, ein Grundprinzip für die Bildung zu finden, und noch schwerer ist, ein solches Prinzip anderen überzeugend zu vermitteln.“
Diese „Fertigkeiten“ zur Selektion und Filterung von Informationen sollten viel stärker vermittelt werden, als die bloßen Fakten. Wir bräuchten im übertragenen Sinne „Boolesche Operatoren“ zur Wissensgewinnung, die mit UND- (Konjunktion), ODER- (Disjunktion), NICHT- (Negation) und XOR-Operator (ausschließendes ODER) die Informationen vorsortieren. Diese „informationelle Selektion“ sollte aber ausdrücklich nicht durch „künstliche Algorithmen„, sondern durch „natürliche Menschen“ geschehen. Ein so „aufbereitetes System von Wissen“ lebt von der Analogie, also der Übertragung von einem Wissenssystem auf ein anderes. Nicht der Inhalt, sondern die Systematik ist hierbei ausschlaggebend und kann als Problemlösestrategie auf andere Bereiche wieder angewendet werden.
Hierbei – so die Hoffnung – gelänge es „komplexere Heuristiken“ zu erstellen, die auch in der Lage sind neue Informationen in das bestehende Wissenssystem einzubinden. Die Bedingung hierzu stellt natürlich ein „informationell-offenes System“ dar. Dass dies aber keine Selbstverständlichkeit ist und auch schon zu einer weiteren informationellen Pathogenese geführt hat, möchte ich in meinem nächsten Essay „„Filterblase – kein Zutritt, geschlossene Gesellschaft!“ oder „Nichts Neues aus der Echokammer!“– ein Feature zum Phänomen „Digitaler Tribalismus“ –“ genauer untersuchen.
© Einleitung: Max Rosenbaum, Text: Dirk Boucsein